Kitanotstand bei uns: "Dann ist Ende im Gelände"

Der Personalmangel in unseren Kitas sorgt für Unzufriedenheit bei Eltern und Erzieherinnen. Kinder können nicht mehr richtig betreut werden. Uns liegen jetzt gemeinsam mit unseren Partnern des Recherchenetzwerks CORRECTIV erstmals Daten und Zahlen vor: Wie groß ist das Problem in Gladbeck, Bottrop und Gelsenkirchen wirklich? Und mit welchen Folgen für die Kinder?

© André Hirtz / FUNKE Foto Services

Eindrücke zweier Erzieherinnen aus Gelsenkirchen

Petra Müller und Kathi Schäfer arbeiten in der Kita an der Lothringer Straße in Gelsenkirchen-Rotthausen. 65 Kinder zwischen 2 und 6 Jahren betreuen sie jeden Tag - in drei Gruppen, mit sieben Vollzeit-Erzieherinnen und einer Halbtagskraft. Alle Stellen seien mittlerweile besetzt, trotzdem sei die Lage schwierig. "Wir müssten viel mehr in Kleingruppen arbeiten", sagt Kita-Leiterin Petra. "Das können wir ganz oft nicht - und das führt dann zu so einer Unzufriedenheit."

Auch Kollegin Kathi bestätigt das, sie ist erst seit wenigen Jahren mit ihrer dreijährigen Ausbildung fertig - und liebt ihren Job. Trotzdem: "Man arbeitet mehr ums Kind herum als direkt mit dem Kind" - das sei schade, vor allem wegen der vielen Bürokratie. "Man muss sich eigentlich in ganz viele Hälften teilen, um für alle Kinder gleichzeitig da zu sein."

Petra und Kathi wünschen sich mehr Personal - und weniger Bürokratie. Sie fordern mehr Wertschätzung für ihren Beruf - und bessere Arbeitsbedingungen, nicht nur besseres Gehalt. Petra Müller sieht da vor allem die Landesregierung in der Pflicht. In einigen wenigen Fällen hätten sie die Kita schon teilweise dichtmachen müssen, weil Personal fehle. Denn Ausfälle wegen Krankheit kämen immer wieder vor. Der Druck sei immens. Krank zur Arbeit zu kommen, sei nichts Ungewöhnliches: "Das passiert eigentlich ständig. Weil man das Gefühl hat, man lässt seine Kolleginnen im Stich", erzählt Petra.

© Radio Emscher Lippe
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Recherchekooperation mit CORRECTIV.Lokal

In dieser Recherche kooperieren wir mit dem Recherchenetzwerk CORRECTIV.Lokal. Die KollegInnen haben bundesweit in allen Städten und Kreisen recherchiert - und uns die Daten zur Verfügung gestellt.

Möchtet ihr, dass sich etwas ändert? Dann werdet jetzt aktiv! Besucht die Themenseite, die von unserem Kooperationspartner CORRECTIV erstellt wurde. Dort findet ihr vielfältige Möglichkeiten, wie ihr selbst einen Beitrag leisten könnt. Erfahrt, wie ihr die Politik zum Handeln bewegen könnt und entdeckt Mitmalbilder für eure Kinder sowie Plakate, die ihr in eurer Nachbarschaft aufhängen könnt, um auf den Kitanotstand aufmerksam zu machen.

So haben wir gemeinsam recherchiert

Gemeinsam mit unserem Kooperationspartner CORRECTIV.Lokal haben wir uns konkret die Folgen des Personalmangels in den Kitas angeschaut. Kitas sind verpflichtet, dem Landesjugendamt Bescheid zu geben, wenn es "Ereignisse oder Entwicklungen gibt", die das Kindeswohl gefährden können. Dazu zählt auch, wenn die Kitas den vorgegebenen Personalschlüssel unterschreiten. Durch die Anfragen beim Landesjugendamt liegt uns das genaue Ausmaß nun erstmals vor - und zwar für den Zeitraum August 2022 bis Juli 2023.

So dramatisch ist der Personalmangel in den Kitas bei uns

  • In Gelsenkirchen ist der Personalmangel in den Kitas besonders dramatisch. Hier haben die Kitas innerhalb eines Jahres 108-mal gemeldet, dass sie die vereinbarte Betreuung wegen Personalmangels nicht leisten konnten. 17-mal musste die Betreuungszeit reduziert werden, dreimal musste die Einrichtung sogar komplett geschlossen werden. 44-mal wurde eine Gruppe oder ein Teil der Kita dichtgemacht. Insgesamt gibt es 140 Einrichtungen in Gelsenkirchen.
  • Auch im Kreis Recklinghausen sieht es ähnlich aus. 264 Meldungen gingen innerhalb eines Jahres ans Landesjugendamt. 56-mal wurde die Betreuungszeit reduziert, dreimal eine Einrichtung komplett geschlossen, 48-mal eine Gruppe oder ein Teil der Kita zugemacht. Insgesamt gibt es im Kreis Recklinghausen 346 Einrichtungen.
  • Nur in Bottrop sieht die Lage besser aus: Hier gab es 63 Einrichtungen, aber nur zwei Meldungen. Komplett zumachen musste demnach keine Kita.

Wichtig: Correctiv geht von einer Dunkelziffer aus, weil offenbar nicht alle Kitas zuverlässig melden, wenn Personal fehlt und dadurch Probleme entstehen.

Anonyme Umfrage unter Erzieherinnen in NRW

Das Recherchenetzwerk CORRECTIV hat bundesweit und anonym außerdem MitarbeiterInnen in Kitas befragt, welche Folgen der Personalmangel konkret hat. 228 Menschen haben alleine aus NRW teilgenommen - die Umfrage ist nicht repräsentativ.

  • 56 Prozent der Befragten sagen, dass pädagogische Arbeit nicht mehr möglich sei. Die Zeit in der Kita werde zur "Aufbewahrungszeit", frühkindliche Bildung und Förderung sei nicht oder kaum möglich.
  • Fast jede/r zehnte ErzieherIn (7%) berichtete in der Umfrage davon, dass noch nicht einmal die Grundbedürfnisse erfüllt werden könnten. Die Mitarbeiter könnten zum Beispiel nicht die Windeln wechseln, wenn es nötig wäre - oder ein verletztes Kind nicht angemessen versorgen.
  • 16 Prozent der Befragten haben berichtet, dass sie über einen längeren Zeitraum alleine in der Gruppe waren. Einige berichteten davon, dass sie deshalb über Stunden nicht zur Toilette gehen konnten.
  • Der Personalmangel könnte in Zukunft sogar noch schlimmer werden: 7 Prozent der Befragten berichten in der Umfrage davon, dass sie darüber nachdenken, aus dem Job auszusteigen - oder das sogar schon gemacht haben.
  • 14 Prozent leiden an gesundheitlichen Folgen wie Depression oder Burnout.

Das sagen Kita-MitarbeiterInnen aus NRW anonym

  • „Wir können unseren eigenen beruflichen Werten nicht mehr nachkommen. Wir verwahren die Kinder mehr schlecht als recht. Für die Kinder ist es einfach nicht mehr schön. Die gesundheitliche Belastung für beide Seiten ist extrem. Schon alleine wegen der andauernden Lautstärke.“
  • „Ein Kind sitzt auf der Toilette mehrere Minuten und braucht Hilfe beim Abputzen, aber niemand hat Zeit und das Kind muss zehn Minuten auf die Hilfe warten.“
  • „Meine Kollegin war aus dem Gruppenraum, um ein Kind zu wickeln. In der Zeit hat sich ein Kind verletzt, zwei haben gestritten und weitere haben im Nebenraum Wände mit Buntstiften angemalt. Ein Kind lief mir die ganze Zeit hinterher und wollte auf den Arm kuscheln. Es war einfach so frustrierend, den "Laden" sehenden Auges gegen die Wand zu fahren. Da keine Möglichkeit bestand, ansatzweise die Situation alleine zu bewältigen. Eigentlich ein normaler Morgen unter Zweijährigen. Aber alleine....keine Chance.“

Interaktive Karte: So ist der Personalschlüssel in Gladbeck, Bottrop, Gelsenkirchen und ganz Deutschland

In dieser Recherche arbeiten wir auch mit dem Institut für Journalistik an der TU Dortmund zusammen. Studierende haben sich ganz genau mit wichtigen Zahlen und Daten zum Kitanotstand beschäftigt - und selbst nachgerechnet. Die Daten zeigen: In den letzten Jahren ist der Personalschlüssel leicht gesunken - das heißt, eine Erzieherin betreut im Schnitt etwas weniger Kinder. NRW steht insgesamt vergleichsweise gut da - in Ostdeutschland beispielsweise muss eine Kita-Erzieherin deutlich mehr Kinder betreuen.

Grafik: Joscha F. Westerkamp

Grafik: Joscha F. Westerkamp

Kita-Plätze fehlen: Kinder können nicht betreut werden

Das fehlende Personal macht sich auch in insgesamt zu wenigen Kita-Plätzen bemerkbar. In Gelsenkirchen zum Beispiel lag die Versorgungsquote zum Stichtag Ende 2022 bei den Unter-Drei-Jährigen gerade einmal bei 24 Prozent. Bedeutet: Rein rechnerisch kann nur jedes vierte Kinder unter drei Jahren einen Kita-Platz bekommen. Bei den 3-bis-6-Jährigen liegt die Quote in Gelsenkirchen immerhin bei 85 Prozent.

Das spiegelt sich dann auch in den Betreuungsquoten wider, die die Studierenden der TU Dortmund berechnet und ausgewertet haben. Der Wert gibt an, wie viel Prozent der Kinder in einer Stadt tatsächlich in Kitas oder der Kindertagespflege betreut werden. In Gelsenkirchen liegt der Wert bei den Unter-3-Jährigen bei 18 Prozent - große Veränderungen gab es in den letzten Jahren nicht. Im Regierungsbezirk Münster, zu dem auch Gladbeck, Bottrop und Gelsenkirchen gehören, sind es 32 Prozent, also deutlich mehr.

Grafik: Tom Manzelmann

Grafik: Frederic Schnarr

Bei den 3-bis-5-Jährigen ist der Wert für Gelsenkirchen zuletzt sogar zurückgegangen, das heißt, es werden immer weniger der Kinder in den Kitas und der Kindertagespflege versorgt. Waren es 2015 noch neun von zehn Kindern, wurden 2022 nur acht von zehn Kindern in einer Kita betreut.

Deutschlandweit gesehen würden gerne deutlich mehr Eltern ihre Kinder in einer Kita betreuen lassen. Das zeigen Daten der Bundesregierung. Bei etwa der Hälfte der Kinder unter 3 Jahren besteht Betreuungsbedarf in einer Kita. Tatsächlich wird aber nur etwa jedes dritte Kind betreut.

Grafik: Tom Manzelmann

Grafik: Frederic Schnarr

Der rechtliche Rahmen

Eigentlich hat in NRW jedes Kind ab dem 1. Lebensjahr das Recht auf einen Betreuungsplatz in einer Kindertagespflege bzw. in einer Kita - und das seit 10 Jahren, seit 2013. Das Recht kann auch eingeklagt werden - allerdings ändert das nichts an der personellen Ausstattung bzw. den fehlenden Kita-Plätzen.

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