Corona-Einschränkungen: Die Geduld der Vernünftigen

Die Einschränkungen der Landesregierung im Kampf gegen das Coronavirus treffen unseren Alltag hart - außer unseren beruflichen. Während Grundrechtseinschränkungen ins Privatleben eingreifen, ist in vielen Unternehmen fast alles wie immer. Und private Treffen sind nur im öffentlichen Raum verboten - im Januar dürfte das eine überschaubare Zahl der Kontakte darstellen. Was macht das mit Bereitschaft der vielen Vernünftigen, sich weiterhin freiwillig an Regeln und Empfehlungen zu halten?

Geschlossen-Schild vor einem Restaurant
© Barbara Zabka / FUNKE Foto Services

Ein Kommentar von Lennart Hemme

Wir, zu dritt, zu Hause unterm Weihnachtsbaum. Das war unser Weihnachten. Drei Tage lang. Das war auch unser Silvester. Wir haben niemanden getroffen: Die erwachsenen Kinder nicht ihre Eltern, die Geschwister nicht ihre Geschwister, die Oma nicht ihre Enkelin. Die hat sie seit September sowieso erst zweimal gesehen - als es noch ging. Draußen im Garten und trotzdem mit Maske. Weil es vernünftiger ist. Weil ich nicht das Glied in der Kette sein möchte, das die Infektion unbemerkt weiterträgt.

Auf der Arbeit ist fast alles erlaubt

Hier im Sender aber, da darf mein Alltag ganz anders aussehen. Denn im Großraumbüro dürfte ich jeden Tag mit Menschen aus zehn verschiedenen Haushalten in derselben Aerosolwolke sitzen - am Schreibtisch oder hinter einer Plexiglasscheibe sogar ohne Maske. Die gleichen zehn dürfte ich nach der Arbeit aber nicht zu Hause treffen. Oder, genauer gesagt: Ich soll sie nicht treffen. Denn die Eigenverantwortung von uns Vernünftigen wird gerade ziemlich strapaziert. Strapaziert von einer Landesregierung, die sich nicht traut, mutige, einschneidende Entscheidungen zu treffen.

Naive Hoffnung auf Eigenverantwortung

Allen Appellen und allen schwammigen Pressekonferenzformulierungen zum Trotz: In der privaten Wohnung dürfen wir in Nordrhein-Westfalen immer noch so gut wie alles tun und lassen, was keine "Party" ist. Die Vernünftigen verzichten eh schon - seit vielen Monaten. Die wenigen Unvernünftigen werden auf die Appelle einer von ihnen verachteten Landesregierung allerdings wenig geben. Und auch bei Firmen kann man zwar naiv hoffen, dass sie eigenverantwortlich eine Homeoffice-Pflicht einführen, um die absurde Situation zu beenden, dass Aerosole an der Bürotür plötzlich zu stoppen scheinen - jedenfalls, wenn man der Logik der Bundes- und Landesregierung folgt.

Wie aussichtsreich diese Hoffnung aber ist, zeigen aktuelle Zahlen: Im November sind nur 14 Prozent der Arbeitnehmer in Deutschland im Homeoffice geblieben, hat die Hans-Böckler-Stiftung ermittelt. Im April waren es noch 27 Prozent. Dass Eigenverantwortung nicht funktioniert, sehen wir Tag für Tag, wenn Infektions- und Todeszahlen davon unbeeindruckt hoch bleiben.

Gemeinsame, gesellschaftliche Kraftanstrengung

Die Geduld der Vernünftigen ist bald aufgebraucht, wenn ihre Solidarität immer weiter ganz offiziell untergraben werden darf. Weil die Politik sich nicht traut, in einer gemeinsamen, gesellschaftlichen Kraftanstrengung Kontakte für einen kurzen Zeitraum wirklich drastisch zu verhindern. Und stattdessen darauf hofft, dass wir uns irgendwie so lange vor dem Kollaps unserer Krankenhäuser retten können, bis die schleppend anlaufenden Impfungen endlich Wirkung zeigen.

Was haben wir zu verlieren? Einen Alltag, in dem eh schon fast alles verboten ist - außer natürlich, es steht “Arbeit” drüber? Auf diesen Alltag verzichte ich gerne für zwei, drei Wochen. Und ich bin mir sicher, die vielen Vernünftigen machen mit. Wenn sie bis dahin nicht ihre Geduld verloren haben.

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